Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company

Aus Chamapedia

Die «Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company» entsteht 1905 durch die Fusion der beiden milchverarbeitenden Konzerne. Der lange Firmenname wird 1947 auf Nestlé Alimentana und 1977 auf Nestlé verkürzt. Die Produktion in Cham schliesst 1933. Bis heute befindet sich das Aktienregisterbüro des Weltkonzerns Nestlé in Cham.


Symbolträchtiges Bild für die Anglo-Swiss-­Aktionäre in Cham: Das Milchmädchen der Anglo-Swiss legt fürsorglich die Hand auf die Schulter des kleineren Mädchens, das Kindermehl der Nestlé serviert, 1905
Das ständig erweiterte Werk der Anglo-Swiss Condensed Milk Company, undatiert (um 1935)
Henri Nestlé (1814–1890), geboren in Frankfurt am Main, wandert in die Schweiz aus, besteht 1839 in Vevey die Zulassungsprüfung als Apothekergehilfe, wird Kleinunternehmer und produziert Öl, Likör und Dünger, dann Mineralwasser und Bleiweiss, beschäftigt sich mit Gasbeleuchtung und erfindet zwischen 1861 und 1868 das Kindermehl
Jubiläumsbesuch der Verwaltungsräte (VR) und Generaldirektoren (GD) zur Erinnerung an die Gründung der «Anglo-Swiss Condensed Milk Company» vor 125 Jahren, im restaurierten Sitzungssaal des Verwaltungsgebäudes in Cham, 1991: Teilnehmer: hintere Reihe von links: Jose Daniel GD, Rudolf Tschan GD, Karl Hochreutener, vier Mitarbeiterinnen als «Milchmädchen»: Annelies Fleischli, Marlies Schuler-Hörler, Rosmarie Herzog, Erna Lieb, Beat Keusch, Stephan Schmidheiny VR, Rudolf Morf GD, Jean-Pierre Meyers VR, Werner Nuber, Direktor Cham, Peter Brabeck GD, Rupert Gasser GD. Sitzend von links noch rechts: Prof. Pierre Lalive VR, Paul H. Volcker VR, Paul A. Jolles VR, Camillo Pagano GD, Armin O. Baltensweiler VR, Fritz Gerber VR, Eric Giorgis VR, Hans Strasser VR
Das Verwaltungsgebäude der Anglo-Swiss Condensed Milk Company aus dem Jahr 1877 an der Zugerstrasse 8. Noch heute gehört das Gebäude der Nachfolgefirma Nestlé SA


Chronologie

1881 George Ham Page (1836–1899) will das Unternehmen seines Konkurrenten Henri Nestlé (1814–1890) in Vevey VD übernehmen. Er rechnet mit einem Kaufpreis von 1,5 Millionen Franken. Davon will Nestlé nichts wissen und schlägt stattdessen eine Fusion vor, was Page ausschlägt, weil die Anglo-Swiss viel rentabler sei. [1]

1883 Paul F. Wild (1842–1914), der Verwaltungsratspräsident der Anglo-Swiss, trifft sich allein mit Emile-Louis Roussy (1842–1920) von Nestlé. [2]

1889 Wild trifft sich erneut mit Roussy und mit Jules Monnerat (1820–1898), dem Verwaltungsratspräsidenten der Nestlé. Diesmal geht es um den Verkauf der Anglo-Swiss-Fabrik in Düdingen FR. Doch der Verkauf misslingt. Anglo-Swiss Direktor David Page (1844–1903) kommentiert in seiner ironischen Art: «Warum kauft Nestlé nicht gleich unsere ganze Firma?» Wild nimmt Davids Spruch ernst, verhandelt weiter und macht George Page schliesslich folgenden Vorschlag: Anglo-Swiss und Nestlé würden zusammen eine Firma gründen. Zwei Generaldirektoren würden die Firma führen, George wäre der Chef der Milchdivision. Vom Aktienkapitel von 40 Millionen Franken würde die Anglo-Swiss 30 Millionen beisteuern. Doch auch dieser Plan scheitert. Von George Page ist folgende Anschauung überliefert: «Es ist hart, eine Zusammenarbeit zu planen, wenn ein Elefant mit einer Maus eine profitable Partnerschaft eingehen soll.» Mit dem Elefanten meint er natürlich seine Anglo-Swiss, mit der Maus die Nestlé. [3]

1899 Nach dem Tod von Anglo-Swiss-Generaldirektor George Ham Page beginnen die Fusionsverhandlungen zwischen Anglo-Swiss und Nestlé. [4] Als Ersatz für den verstorbenen Page wird Alois Bossard (1841–1912) in den Verwaltungsrat der Anglo-Swiss gewählt. [5] Er schlägt sich bei den Fusionsverhandlungen auf die Seite der Fusionsbefürworter, zusammen mit Adelheid (1853–1925) und Fred Page (1877–1930), den direkten Nachkommen von George Page. An der Generalversammlung vom 12. September kommt die Zweidrittelsmehrheit aber nicht zustande, die für die Fusion notwendig gewesen wäre. [6] Man muss wissen: Die Anglo-Swiss hat zu diesem Zeitpunkt eine dreimal so hohe Produktionskapazität wie Nestlé, die liquiden Mittel der Chamer betragen 9 Millionen Franken, die der Nestlé nur 4 Millionen. [7]

1901 Die Fusion bleibt das bestimmende Thema. Um ein Gleichgewicht zwischen Fusionsgegnern und -freunden zu schaffen und um die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen, wird die Generaldirektion von einem Trio besetzt: Adolf Gretener (1850–1924), Alois Bossard und Fred Page teilen sich die Verantwortung. [8] Gretener ist gegen die Fusion, die zwei anderen sind dafür. Der Verwaltungsrat beschliesst den Verkauf des Amerikageschäfts der Anglo-Swiss, um die Firma noch wertvoller zu machen. [9]

1905 Alois Bossard leitet erfolgreich die Gruppe der Aktionäre, die eine Fusion der Anglo-Swiss mit Nestlé befürworten. Die Fusion gelingt. Das neue Unternehmen heisst «Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company». [10]

1908 Bossard tritt aus gesundheitlichen Gründen aus der Generaldirektion zurück, verbleibt aber im Verwaltungsrat der neu fusionierten Gesellschaft Nestlé & Anglo-Swiss und wirkt dort als ständiger Unruheherd. An der Generalversammlung 1908 stellt er sich öffentlich gegen den Verwaltungsrat. [11]

1914 Die gezuckerte Kondensmilch – das Kerngeschäft der Chamer Anglo-Swiss – generiert noch immer 82 Prozent des Konzernumsatzes. Allerdings gehen die Milchexporte während des Ersten Weltkriegs sukzessive zurück, weil weniger Schweizer Milch zur Verfügung steht. Um dennoch liefern zu können, beginnt das Unternehmen mit Verlagerungen ins Ausland. [12]

1922 Die Milchfabrik schreibt erstmals rote Zahlen. Wegen hoher Milchpreise verlagert sie einen Teil ihrer Produktion ins Ausland: «Nun fühlte man auch in Cham allgemach, dass die Firma langsam ins Ausland abbröckelte.» [13]

1923 Die Nestlé-Anglo Swiss schliesst in Cham ihre Werkstätten und entlässt 20 Arbeiter. [14]

1932 Die Generaldirektion in Vevey beschliesst, die Fabrikationsanlage in Cham zu schliessen, «weil diese nicht mehr mit Milch versorgt werden könne, die Konkurrenzpreisen entspreche». [15] Der Personalbestand wird um zwei Drittel reduziert, 60 Personen werden entlassen. [16] Die Schliessung der Milchfabrik ist ein Drama in Cham; während 66 Jahren war die Firma der wirtschaftliche Motor der ganzen Region gewesen. Die Schliessung trifft nicht nur die Belegschaft hart, sondern auch die Bauern der Umgebung, die ihre Milch nicht mehr in die Chamer Milchfabrik liefern können. Zudem ist die Schweiz von der grossen Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre betroffen.

Auch der Chamer Gemeindepräsident Bernhard Baumgartner (1874–1946) setzt sich für den Fortbestand des Industriebetriebs ein. Mittels Interpellation im Kantonsrat verlangt er vom Zuger Regierungsrat nach Massnahmen für das Überleben der Fabrik. Der Regierungsrat beauftragt seinerseits die kantonale Landwirtschaftsdirektion, mit dem Zentralvorstand der Milchproduzenten und mit der Generaldirektion der Nestlé Gespräche zu führen. Doch diese verlaufen ergebnislos. [17]


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Pförtnerhaus und Eingang zum Nestlé­-Fabrikgelände an der Zugerstrasse, aufgenommen wenige Tage vor der endgültigen Betriebsschliessung am 1. November 1933


1933 Am 1. November schliesst die Milchfabrik endgültig. Die Nestlé-Anglo Swiss spricht in Cham nochmals 30 Entlassungen aus. [18]

1944 Die Fabrikationshallen entlang der Lorze verkauft die Nestlé der Maschinenfabrik Cham. [19]

1947 Nach der Übernahme der AG Alimentana mit Maggi heisst die Firma neu «Nestlé Alimentana». Der Name Anglo-Swiss ist damit Geschichte. [20]

1977 Der Einfachheit halber heisst der Nahrungsmittelkonzern nur noch «Nestlé». [21]

2016 Die Nestlé feiert ihren 150. Geburtstag und besinnt sich ihrer Chamer Wurzeln. Dazu wird das Verwaltungsgebäude an der Zugerstrasse 8 mit wechselnden Farben illuminiert. Zudem verfassen die zwei Page-Biografen Judith Stadlin und Michael van Orsouw (*1965) die Theatertour «De Südi-Schorsch». [22]


Bundesbern entdeckt in Cham die Schreibmaschine

«Am 6. Januar 1885 beugten sich im Bundeshaus in Bern sieben bundesrätliche Häupter über einen Gegenstand, der ihre magistrale Bewunderung erregte: über eine Schreibmaschine. [23] Vierzehn Tage vergehen, während denen die Administration die Frage, ob Schreibmaschine oder nicht, eingehend studiert. Dann, großer Entschluß! Am 19. Januar wird der Kanzleibeamte nach Cham geschickt, um dort die Kunst des Maschinenschreibens zu lernen. (In Cham hatte nämlich die Weltfirma Nestlé in ihrem Zentralsitz diese Wunderwerke aus Amerika schon in Betrieb.) Am ersten Tage schreibt er der Kanzlei nach Bern einen maschinengetippten Brief, der dort eine wahre Sensation hervorruft. Aber erst im Jahre 1905, also 20 Jahre später, hielt die Schreibmaschine ihren Einzug im Bundespalais. So lange brauchte die bernische Gründlichkeit, um hinter das Geheimnis der schreibenden Maschine zu kommen.» [24]


Verdorbene und gepanschte Milchlieferungen

«"Ehrlich währt am längsten und wer nicht ...... , der kommt zu nichts". Das wird sich auch ein reicher Chamer Bauer gesagt haben, als er letzte Woche seine Milchlieferung von der Milchfabrik retour bekam. Da nämlich das Alters- und Krankenasyl ebenfalls bei ihm Milch bezog, gab er die von der Fabrik beanstandete einfach an dieses ab. Das hatte dann zur Folge, daß einigen Insassen im Asyl unwohl wurde, wodurch der Betrug an den Tag kam. Die Asylverwaltung hat dann von weiterem Bezug Abstand genommen, trotzdem sie für allerdings reine, frische Milch 2 Rappen mehr bezahlte als üblich. Nicht gar selten kommt es vor, daß von der Milchfabrik, die ein eigenes Laboratorium besitzt, Wassermannen zurückgewiesen werden müssen. Es würde sich doch auch schön machen, wenn solche Leute ihre Namen in der Zeitung gedruckt sehen könnten.» [25]


Einzelnachweise

  1. Orsouw, Michael van / Stadlin, Judith / Imboden, Monika, George Page, Der Milchpionier. Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company bis zur Fusion mit Nestlé, Vevey / Zürich 2005, S. 97f.
  2. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 146
  3. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 146
  4. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 168
  5. Lüpold, Martin, Der Ausbau der «Festung Schweiz»: Aktienrecht und Corporate Governance in der Schweiz, 1881–1961, Dissertation Universität Zürich, Zürich 2010, S. 147
  6. Fischer, Manuel, Kondensmilch, vom Kinderernährungsmittel zum vielseitigen Halbfabrikat der Nahrungsmittelindustrie, in: Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 17, 2001, S. 298
  7. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 170
  8. Orsouw, Michael van / Stadlin, Judith / Imboden, Monika, Adelheid, Frau ohne Grenzen. Das reiche Leben der Adelheid Page-Schwerzmann, Zürich 2003, S. 136
  9. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 171, 174
  10. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 174f. Vgl. Anmerkung 5 (Lüpold), S. 148
  11. Vgl. Anmerkung 5 (Lüpold), S. 148.
  12. Fenner, Thomas, Nestlé & Anglo-Swiss. Vom Schweizer Milchimperium zum multinationalen Nahrungsmittelkonzern, in: Rossfeld, Roman / Straumann, Tobias (Hrsg.), Der vergessene Wirtschaftskrieg, Zürich 2008, S. 322–329
  13. Steiner, Hermann, Seltene Berufe und Menschen im Zugerland, Zug 1984, S. 146
  14. Arbeitsgruppe Geschichte Zug, Krise im Kanton Zug nichts Neues, Zug 1976, S. 36
  15. Vgl. Anmerkung 13 (Steiner), S. 146
  16. Arbeitsgruppe Geschichte Zug, Krise im Kanton Zug nichts Neues, Zug 1976, S. 129
  17. Arbeitsgruppe Geschichte Zug, Krise im Kanton Zug nichts Neues, Zug 1976, S. 137
  18. Arbeitsgruppe Geschichte Zug, Krise im Kanton Zug nichts Neues, Zug 1976, S. 129
  19. Speidel, Georges, L’Anglo-Swiss Condensed Milk Co & Henri Nestlé SA, Vevey 1998, S. 5
  20. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 71
  21. Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden, 2005), S. 71
  22. Zuger Presse, 20.01.2016
  23. 1867 wurde in Amerika die erste brauchbare Schreibmaschine patentiert, die spätere Remington
  24. Neue Zürcher Zeitung, 09.11.1941
  25. Grütlianer, 12.03.1914