Luzernerstrasse 35, 37, 39 und 41, Kolonialstilhäuser
Direkt beim Bahnhof Cham stehen zwei auffällige Holzbauten im amerikanischen Kolonialstil. Die Chamer Milchfabrik erbaute diese herrschaftlichen Häuser einst für ihre aus Amerika stammenden Direktoren. Dank eines geschickt ausgearbeiteten Bebauungsplans konnten die baulichen Zeitzeugen erhalten bleiben.
Chronologie
1876 Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company beschliesst den Bau zweier Direktorenhäuser an der Luzernerstrasse, im Geschäftsbericht werden sie «einfache Wohngebäude für den Director und seinen Stellvertreter» genannt. Im westlichen Haus wohnen Martha oder Myrtha (1853–1900) und David Steven Page (1844–1903), im östlichen Adelheid Page-Schwerzmann (1853–1925) und George Ham Page (1836–1899). [1] Die Wohnhäuser sollen so eingerichtet werden, dass sie jederzeit in zwei getrennte Wohnungen von sechs Zimmern mit eigenem Eingang und Treppenhaus geteilt werden können. [2] Die Einrichtung der beiden Häuser unterscheidet sich so sehr, wie die beiden Ehepaare verschieden sind. David ist jovial und gerne in Gesellschaft, er spielt Geige und Theater, spricht Schweizerdeutsch und erlaubt sich gerne einen Scherz; George hingegen ist der distanzierte Typ, lässt kaum jemanden an sich heran und spricht kein Schweizerdeutsch, er will und kann sich nicht mit den schweizerischen Eigenheiten anfreunden. Martha Page-Stutz ist die Tochter des Wirte- und Posthalterehepaars Stutz und deshalb mit dem Chamer Dorfleben vertraut und integriert; Adelheid dagegen orientiert sich nicht an Cham, sondern an einem welthaltigeren Leben. [3]
1878 In George Ham Pages Heimat Dixon im amerikanischen Bundesstaat Illinois heisst es im «Dixon Telegraph»: «Mr. Page wohnt im königlichen Stil.» In der Tat haben George und Adelheid im Hochparterre ihres Kolonialstilhauses einen repräsentativen Wohnraum und einen hohen Speisessal mit wunderbarer Aussicht auf den Bahnhof Cham, auf den Zugersee und die Rigi. Im ersten Stock liegen die schön ausgestatteten Schlafzimmer der Pages, im zweiten die Wirtschaftsträume und die Zimmer der Angestellten. [4]
1886 Adelheid, George und der neunjährige Sohn Fred Page (1877–1930) ziehen um: Sie bewohnen nun das neu erbaute Cottage an der Hünenbergerstrasse. Es ist ebenfalls im amerikanischen Kolonialstil gehalten, aber mit 20 Zimmern viel grösser und von einem prächtigen Park umgeben. [5]
1933 Die Bauunternehmung Gebrüder Käppeli erwirbt eines der Kolonialstilhäuser beim Bahnhof Cham und nutzt es als Firmen– und Familiensitz. Das zweite Haus geht an die Papierfabrik. [6] In den Hallen des Zuckerlagers der «Anglo-Swiss Condensed Milk Company» werden die Werkstätten und das Materiallager eingerichtet.
1973 Die Gebr. Käppeli AG erwirbt auch das zweite Kolonialstilhaus von der Hammer AG, der Immobilientochter der Papierfabrik. [7]
1987 Die Kolonialstilhäuser sind in einem schlechten Zustand. Eine Abbruchbewilligung liegt vor. [8]
1989 Anlässlich der Jahrestagung der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege im Kanton Zug begutachten die kantonalen und eidgenössischen Spezialisten in Cham den Landsitz in der Villette, die Kolonialstilhäuser, die Pfarrkirche St. Jakob und das Zisterzienserinnenkloster Frauenthal. [9]
1994 Die Besitzer erarbeiten mit der Zuger Denkmalpflege und der Gemeinde Cham einen Bebauungsplan, der die westlich benachbarte Parzelle miteinbezieht. Weil dort eine höhere Ausnützung zugestanden wird, können die Kolonialstilhäuser erhalten werden. [10]
1999 Der Regierungsrat des Kantons Zug stellt die beiden Häuser unter kantonalen Denkmalschutz. Damit ist ihr Fortbestand gerettet. [11]
2001 Die Häuser werden vom Architekt Helmut Goldmann (*1962) sorgfältig restauriert und renoviert. Am Tag des offenen Denkmals werden die frisch renovierten Kolonialstilhäuser dem interessierten Publikum gezeigt. [12]
2003 Der Chamer Landschaftsarchitekt Benedikt Stähli (*1966) saniert die Privatgärten um die Liegenschaften.
2004 Die Überbauung «Chamer-Tor» soll die Baulücke westlich der Kolonialstilhäuser schliessen, wo einst der Lagerhaus der Anglo-Swiss und später der Werkhof der Gemeinde Cham stand. Der Neubau umfasst 12 Wohnungen. Das «Chamer-Tor» ist im Jahr 2005 bezugsbereit. [13]
2024 Alle vier Doppelwohnhäuser sind im Verzeichnis der geschützten Denkmäler der Gemeinde Cham enthalten. [14]
Kunsthistorische Beschreibung
«Die auf einem gemauerten Kellergeschoss aufliegenden Fachwerk-Ständerbauten sind nach amerikanischer Bauart nicht ausgefacht, sondern aussen mit einer durch Ecklisenen gefassten Stulpschalung, innen durch vorgehängt Gipsplatten verkleidet. Die Strassenseite zeigt nach amerikanischem Vorbild erkerartige Bay-Windows und über eine Veranda geführte Hauseingänge, die Südseite beidseits des risalitierten Quergiebels durchgehende, ursprünglich teilweise farbig verglaste Lauben. Das eher flach geneigte, weit überstehende Dach ist ein übliches Element des Schweizerhausstils; ebenso die als Zierformen eingesetzten durchbrochenen Laubsägeornamente an den Balkonbrüstungen, Fensterverdachungen und den mit Firstobelisken geschmückten Giebeln. Die Farbigkeit der Fassaden in Crème- und Brauntönen mit roten Kantenbemalungen und bunten Füllungen der Ecklisenen wurde nach Befund des Ursprungszustands bei der Restaurierung wiederhergestellt.» [15]
Fotoessay
Die Kolonialstilhäuser vor der Renovation – verwunschen, geheimnisvoll und einzigartig. Aufnahmen aus dem Jahr 1998
Aktueller Kartenausschnitt
Luftaufnahme «Google Maps»
Einzelnachweise
- ↑ Orsouw, Michael van / Stadlin, Judith / Imboden, Monika, Adelheid, Frau ohne Grenzen. Das reiche Leben der Adelheid Page-Schwerzmann, Zürich 2003, S. 45
- ↑ Grünenfelder, Josef, Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug, Neue Ausgabe, Bd. 2, Die ehemaligen Vogteien der Stadt Zug, Bern 2006, S. 260
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (van Orsouw / Stadlin / Imboden 2003), S. 45
- ↑ Orsouw, Michael van / Stadlin, Judith / Imboden, Monika, George Page, Der Milchpionier. Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company bis zur Fusion mit Nestlé, Vevey / Zürich 2005, S. 93–95
- ↑ Vgl. Anmerkung 2 (Grünenfelder), S. 122. Vgl. Anmerkung 5 (van Orsouw / Stadlin / Imboden 2005), S. 95
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 05.01.2001. Koch, Hans, Nussberger, Paul, Beiträge zur Heimatgeschichte von Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Zollikon 1947, S. 258
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 05.01.2001
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.09.2001
- ↑ Tätigkeitsbericht der kantonalen Denkmalpflege 1988, in: Tugium 5, 1989, S. 17–20, hier S. 17
- ↑ Tätigkeitsbericht der kantonalen Denkmalpflegen 1993, in: Tugium 10, 1994, S. 15. Zuger Zeitung, 12.01.2019
- ↑ Tätigkeitsbericht der kantonalen Denkmalpflege 1998, in: Tugium 15, 1999, S. 10
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.09.2001. Zuger Zeitung, 12.01.2019
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 06.05.2004
- ↑ Amt für Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Zug, Verzeichnis der geschützten Denkmäler der Gemeinde Cham, Grundstücknummern 81–82, 2938–2939 [Stand: 15.05.2024]
- ↑ Vgl. Anmerkung 2 (Grünenfelder), S. 129