Bürgergemeinde Cham, 1874–1909
Die Bürgergemeinde übernahm bei der Aufteilung der Gemeinde in Bürger- und Einwohnergemeinde 1874 das Ortsbürgergut und den Armenfonds. Das Armenwesen war bis zur Eröffnung des Asyls 1909 (heute Andreasklinik) eine der grössten Herausforderungen. Kurz nach ihrer Schaffung war die Bürgergemeinde zudem mit herausfordernden Bürgerrechtsverfahren beschäftigt. Zwei führten zu Bundesgerichtsentscheiden.
Chronologie
1873 Am 14. Dezember stimmt die Zuger Stimmbevölkerung einer neuen Kantonsverfassung zu. Damit verbunden ist die Aufspaltung der Einheitsgemeinde in eine Bürger-, eine Einwohner- und eine katholische Kirchgemeinde. [1]
Der Gasthof Raben: hier fanden von 1874 bis 1925 die Versammlungen der Bürgergemeinde statt, undatiert (ca. 1915)
1874
Am 14. Juni finden die Wahlen in den Bürgerrat statt. Die Wahlbeteiligung ist gering. Die Konservativen dominieren den Bürgerrat. [2]
Als erste Bürgerräte werden gewählt:
- Jakob Werder (1839–1903), im Amt von 1874–1880, Bürgerpräsident [3]
- Paul Kandid Villiger (1813–1889), 1874–1877
- Josef Grob (1829–1904), 1874–1877
- Heinrich Hausheer (1833–1900), 1874–1880
- Fidel Villiger (1829–1899), 1874–1886
1875 Am 18. Januar erlässt der Kanton ein Gesetz, das die Ausscheidung der Güter der Einheitsgemeinde auf die neu erschaffenen Einwohner-, Bürger- und katholischen Kirchgemeinden regelt. [4]
Am 7. und 28. Februar einigen sich Bürger- und Einwohnergemeinde über die Aufteilung der Güter. Der Bürgergemeinde verbleibt das Ortsbürgergut mit den Gebäulichkeiten und dem Umgelände sowie der Armenfonds mit den dazu gehörenden Liegenschaften und Mobilien. Die Bürgergemeinde erhält gemäss Ausscheidungsvertrag auch das «Neuhaus», das alte Gemeindehaus an der Schulhausstrasse 1, in welchem die Chamer Kinder damals zur Schule gehen. Die Einwohnergemeinde kann es gegen einen Mietzins weiterhin als Schulhaus nutzen. Die Einwohnergemeinde übernimmt den Schulfonds, die dazu gehörenden Liegenschaften in Rumentikon und alles, was mit dem Polizei-, Militär-, Strassen- und Feuerwehrwesen zusammenhängt. [5]
Die Zuteilung des «Neuhaus» ins Bürgergut ist umstritten. Einige Opponenten versuchen diesen Entscheid mit mehreren Rekursen an den Zuger Regierungsrat umzustossen. Sie ziehen den Fall bis vor das Bundesgericht, wo die Klage abgewiesen wird. [6]
→ zum detaillierten Artikel: Der Streit um das «Neuhaus»
Die Bürgergemeinde schliesst mit der Gemeinde Menzingen einen Vertrag ab. Die Chamer erkaufen sich das Recht, 8 Erwachsene (für 6 Franken pro Woche) und 4 Kinder (für 3.50 Franken pro Woche) im Menziger Armen- resp. Waisenhaus unterzubringen. Kinder werden zudem vermehrt in Familien untergebracht respektive verdingt. Ab 1887 werden keine Kinder mehr nach Menzingen geschickt. [7]
1877 Die Bürgergemeinde legt erstmals eine gültige Rechnung vor. Das Reinvermögen beträgt 29'579 Franken. [8]
1878 Am 12. Mai findet im Raben eine Bürgergemeindeversammlung statt. Sie beschliesst, das «Neuhaus» nun an die Einwohnergemeinde zu verkaufen. [9]
1879 Auf den 1. Januar geht das «Neuhaus» für 50'000 Franken von der Bürger- an die Einwohnergemeinde über. [10]
Das Haus «Roter Bären»
1881
Die Bürgergemeinde verkauft die Armenhausliegenschaft «Roter Bären» am 6. Juni für 18'700 Franken an Sigrist Johann Grob. [11]
1882 Der Bürgerrat denkt daran, ein zentrales Armenhaus für den Ennetsee zu errichten. Die Gemeinden Steinhausen, Hünenberg und Risch werden zu Besprechungen eingeladen und bringen dem Gedanken zuerst Interesse entgegen. Die weiteren Verhandlungen bleiben jedoch erfolglos. [12]
1886 An der Bürgergemeindeversammlung wird heftig kritisiert, dass Cham bedürftige Kinder nach wie vor verdinge. Dies sei «unhaltbar» und es wird gefordert, dass die Kinder in einem Heim untergebracht werden und eine Kommission eingesetzt wird, welche nach Prüfung der Sachlage einen Antrag an die Bürgergemeinde stellen soll. Bürgerpräsident Moritz Baumgartner (1844–1900) verteidigt das Verdingsystem als «nicht so schlimm wie vorgebracht» und warnt vor den Kosten von 2000 Franken, die der Systemwechsel mit sich bringen würde. Die Versammlung lehnt den Antrag ab, das Verdingsystem zu hinterfragen. [13]
An der Bürgergemeindevesammlung im Juni will die Bürgergemeinde den Brüdern George Ham Page (1836–1899) und David Page (1844–1903) sowie ihren Familien das Ehrenbürgerrecht verleihen. Einige «besonders fromme Leute» äussern wegen der Konfession der Familien Page Bedenken. [14] Die Brüder Page lehnen diese Ehrung ab, weil sie damit die amerikanische Staatsbürgerschaft verloren hätten. [15]
1893 Weibel Josef Waller (1820–1893) errichtet die Wallerstiftung mit 5000 Franken und die Familie Dogwiler den Dogwiler-Fonds mit 3000 Franken. Die jährlichen Zinsen der Stiftungen werden an Kinder von Bürgern zur Erlernung eines Handwerks ausbezahlt. Die Bewerber erhalten je nach Bedürfnis zwischen 50 und 150 Franken. [16]
1899 Am 6. September wird zwischen Cham und Hünenberg ein Vertragsentwurf für den Bau eines gemeinsamen Armenhauses aufgesetzt. Kurz zuvor war das Armenhaus in Hünenberg abgebrannt. Während die Chamer die Genehmigung erteilen, lehnen die Hünenberger jedoch ab. [17]
1900 Die Chamer Ortsbürger stimmen am 18. Februar deutlich für die Errichtung eines Asyls für Kranke, Alte und Arme, mit 48 gegen 24 Stimmen. [18] Man hofft, eine solche Institution gemeinsam mit der Bürgergemeinde Hünenberg zu errichten und zu betreiben. [19] Doch die Hünenberger Bürger sind skeptisch und lehnen wenige Tage später eine finanzielle Beteiligung mit 91 Nein- zu 86 Ja-Stimmen ab. Ein Leserbriefschreiber in den Zuger Nachrichten rapportiert die Hünenberger Ängste: «... man befürchtete Bevogtigung und spätere Eliminierung der Gemeinde Hünenberg vom Armen-Asyl durch die kleinere Bürgergemeinde Cham; da seien unsere Leute nur gut zum Zahlen; den Chamern das Dorf verschönern zu helfen und das Zugerwasser billiger zu machen.» (Anspielung auf die Wasserversorgung des Dorfes Cham von Zug her) [20]
Die Bürgergemeinde Cham verfügt über ein Vermögen von 69'700 Franken. [21]
1901 Die Familie Villiger-Suter bietet der Gemeinde ein Bürgerbuch an, das von Fidel Alois Villiger angelegt worden war. Da die Bürgergemeinde noch keines besitzt, beschliesst sie den Ankauf für 600 Franken, allerdings mit dem Antrag, dass es nach- und weitergeführt werden müsse. [22]
1905 Die Bürgergemeinde Cham erwirbt von den Geschwistern Karl und Berta Villiger ungefähr fünf Jucharten Land für 45'000 Franken. Laut Kaufvertrag sollen nach Ableben der Verkäufer 10'000 Franken dem Asylfonds zufallen. Mit dem Kauf sichern sich die Bürger ein vorzügliches Baugelände. Noch im gleichen Jahr fasst die Bürgergemeinde den mutigen Entschluss, auf der Gelände innert fünf Jahren ein Armen- und Krankenasyl zu erstellen. [23]
1906 Der Bürgerrat wendet sich nochmals an die Hünenberger. Am 18. März lehnt Hünenberg mit 77 gegen 76 Stimmen die Mitbeteiligung ab. Eine Stimme entscheidet in der bedeutsamen Angelegenheit. [24]
Im Oktober erhält jeder Haushalt ein Flugblatt. Darin wird das Projekt vorgestellt und es werden Spenden erbeten. Viele Leute folgen dem Aufruf. An ihrer Spitze steht Fräulein Berta Streuli, die 20'000 Franken zur Verfügung stellt, sich dafür ein Freibett erkauft. [25]
1908 Am 10. Mai bewilligt die Bürgergemeinde einen Kredit von 130'000 Franken für den Bau des Asyls nach den Plänen der renommierten Zuger Architekten Dagobert Keiser (1879–1959) und Richard Bracher (1878–1954). Nach dem Ausstieg der Hünenberger holt die federführende Bürgergemeinde Cham eine neue Partnerin an Bord: die Einwohnergemeinde Cham, die 30'000 Franken bewilligt. [26] Der Bürgerrat fragt zuerst im Institut Menzingen um Krankenschwestern nach, erhält jedoch eine Absage. Das Institut Heiligkreuz Cham erklärt sich bereit, die Aufgabe zu übernehmen. [27]
1909 Im Oktober nimmt das Chamer Asyl seinen Betrieb auf. [28]
Das Asyl von 1909: ein erstes Heim für pflegebedürftige Menschen in Cham
Fazit
Die Güterteilung von 1874 zwischen der Bürger- und der Einwohnergemeinde endete mit einem Paukenschlag. Die Bürger- und nicht die Einwohnergemeinde erhielt das Neuhaus, in dem die Chamer Kinder zur Schule gingen. Diese Entscheidung warf hohe Wellen. Kaum hatte das Bundesgericht entschieden, dass diese Zuteilung rechtens sei, verkaufte die Bürgergemeinde das Neuhaus an die Einwohnergemeinde.
Die Bürgergemeinde übernahm bei der Güterteilung den Armenfonds der von 1798 bis 1873 bestehenden Einheitsgemeinde und damit die Betreuung von Bürgern, die in Not geraten waren. Diese Aufgabe war anspruchsvoll. Durch die Hungerkrise von 1816/1817 waren viele Menschen in schwierige Situationen geraten. Deshalb hatte die Gemeinde 1824 das ehemalige Gasthaus «Roter Bären» gekauft und es vorübergehend zu einem Waisen-, Armen- und Schulhaus umgenutzt. Viele Bürgerinnen und Bürger hatten in den Armenfonds gespendet. Zeitweise zog die Gemeinde eine Armensteuer ein. Die Gemeinde hatte im Armenhaus immer wieder mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Es kam zu häufigen Wechseln in der Leitung. [29]
Nach der Güterteilung von 1874 handelte die Bürgergemeinde schnell. Sie vereinbarte im selben Jahr mit der Gemeinde Menzingen, dass die armen Chamer Bürger gegen Entgelt in Menzingen untergebracht werden. Kinder wurden bis 1887 auch nach Menzingen geschickt, wenn möglich wurden sie jedoch verdingt. Diese Praxis wurde innerhalb der Bürgerschaft immer wieder kritisiert. Die Unterbringung in Menzingen war als Übergangslösung gedacht, blieb aber bis zur Eröffnung des Asyls im Jahr 1909 Usus.
Bereits in den 1880er-Jahren begann die Bürgergemeinde über den Bau eines Asyls/Armenhauses nachzudenken. Weil keine Mitbeteiligung der Nachbargemeinden zustande kam, zogen sich diese Pläne gut 25 Jahre hin. Zwischen 1906 und 1909 wurde das Asyl Cham dann aber zügig realisiert. Ab 1909 konnte die Bürgergemeinde Cham den in Not geratenen und kranken Bürgern eine zeitgemässe Unterbringung und Betreuung bieten.
Versammlungen und Sitzungen
Die Bürgergemeindeversammlung fand seit der Gründung der Bürgergemeinde 1874 bis 1925 im Hotel «Raben» statt. 1925 verlegte man sie in den «Bären», weil der Besitzer Chamer Bürger war. Die Zahl der stimmfähigen Bürger lag zwischen 250 und 300. Der Bürgerrat erledigte seine Geschäfte in 12 bis 15 jährlichen Sitzungen. Bis 1928 wurden die Protokolle für Bürgersachen, Armenverwaltung und Waisenamt getrennt geführt. Die Entschädigungen der Bürgerräte und Bediensteten bewegten sich in den unteren Grenzen, das Besoldungsreglement wurde hin und wieder den aktuellen Verhältnissen angepasst. [30]
Das Vermögen der Bürgergemeinde
1880 betrug das Vermögen der Bürgergmeinde 58'495 Franken. Ein Teil dieses Vermögens war sicher aus dem Verkauf des «Neuhaus» an die Einwohnergemeinde entstanden. Bis 1900 wuchs es auf 97'527 Franken, weil das Armenhaus, der «Rote Bären», verkauft wurde und der Holzerlös aus dem Armenwald zeitweise bedeutend war. Zudem betrug der Kapitalzins damals 4,5 bis 5%. [31]
→ zum Artikel Bürgergemeinde, Überblick
Einzelnachweise
- ↑ Matter, Gerhard, Der Kanton Zug auf dem Weg zu seiner Verfassung von 1876. Treibende Kräfte, tragende Ideen der Totalrevision der Jahre 1872–1876, Zug 1985 (Beiträge zur Zuger Geschichte), S. 136
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 159
- ↑ Anton Scherer, Die Bürgergemeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 59
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 50
- ↑ Zuger Volksblatt, 08.05.1878
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51; Staatsarchiv Zug, G 617.6.2, Assekuranzregister Cham, 2. Generation (1868–1929), 1. Band
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 62
- ↑ Bürgerarchiv Cham, A 2/17, Bürgergemeindeversammlung: Protokolle 12.07.1874-14.5.1950, 380 Seiten, ab S. 332 leer. Mikrofilm: Staatsarchiv Zug, MF 59/82
- ↑ Neue Zürcher Zeitung, 25.06.1886
- ↑ Orsouw, Michael van / Stadlin, Judith / Imboden, Monika, George Page, Der Milchpionier. Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company bis zur Fusion mit Nestlé, Vevey / Zürich 2005, S. 190
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 62
- ↑ Zuger Nachrichten, 22.02.1900
- ↑ Odermatt, Alice / Stadlin, Judith, Vom Asyl Cham zur AndreasKlinik. Eine Erfolgsgeschichte der Bürgergemeinde Cham, Cham 2009, S. 16
- ↑ Zuger Nachrichten, 06.03.1900
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 51
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 50
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 63
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 63
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 63
- ↑ Vgl. Anmerkung 19 (Odermatt / Stadlin), S. 18f.
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 63
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 63
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 52-54
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 50
- ↑ Vgl. Anmerkung 3 (Scherer), S. 52f.