1874 – Das Geburtsjahr der Bürgergemeinde

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Ende 1873 stimmte die Zuger Stimmbevölkerung einer neuen Kantonsverfassung zu. Damit verbunden war eine Aufspaltung der bisherigen Einheitsgemeinde in eine Bürger-, eine Einwohner- und eine Kirchgemeinde. Die Wahlen in die neu geschaffenen politischen Körperschaften fanden im Frühling 1874 statt. Die Alteingesessenen machten damals etwa 20% der Wohnbevölkerung aus, im Einwohnerrat hatten sie drei der fünf Sitze.


Chronologie

1873 Am 26. April legt eine vorberatende Kommission dem Zuger Regierungsrat den Entwurf für eine revidierte Kantonsverfassung vor. Dieser ist während eines halben Jahres in 16 Sitzungen ausgearbeitet worden. [1]

Im Mai sind die Beratungen und die Differenzbereinigungen zwischen der Revisionskommission und dem Regierungsrat abgeschlossen. [2]

Vom Juni bis zum Oktober behandelt der Grossrat (Kantonsrat) während 9 Sitzungen in zwei Lesungen den regierungsrätlichen Verfassungsentwurf. [3]

Am 27. Oktober schliesst der Grossrat seine Beratung des Verfassungsentwurfs ab. [4]

Am 14. Dezember stimmt die Zuger Stimmbevölkerung bei einer Stimmbeteiligung von 78 % mit 2199 JA (= 60 %) für die Annahme. Verworfen wird die neue Kantonsverfassung lediglich in der Stadt Zug. Das industriell geprägte Cham stimmt der Verfassung knapp zu. Damit beginnt im Kanton Zug eine neue staatsrechtliche Ära. [5] Die neue Verfassung verlangt u.a. eine Aufspaltung der bisherigen Einheitsgemeinde in eine Bürger-, eine Einwohner- und eine Kirchgemeinde. Dadurch wird den zugezogenen Niedergelassenen ermöglicht, in ihrer Wohngemeinde an den politischen Prozessen teilhaben zu können.

1874 Am 19. April stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung mit 340'199 zu 198'013 Volks- und 13½ zu 8½ Standesstimmen einer Totalrevision der Bundesverfassung zu. [6] Der Kanton Zug lehnt die revidierte Bundesverfassung ab, nur die Gemeinden Cham, Unterägeri, Baar, und Zug nehmen sie an.

Am 31. Mai finden in Cham und in den übrigen Zuger Gemeinden die Wahlen für den Einwohnerrat statt. In Cham kommt es zu einer offenen Wahl. Die Konservativen dominieren den Einwohnerrat. [7] Präsident des Einwohnerrats wird mit Kaspar Meier (1828–1885) aber ein Liberaler.

Am 14. Juni finden die Wahlen in den Bürgerrat statt. Die Wahlbeteiligung bei den Bürgerratswahlen ist gering. Die Konservativen dominieren auch im Bürgerrat. [8]

Am 21. Juni werden die Behörden der katholischen Schul- und Kirchgemeinden gewählt. [9]

1875 Am 18. Januar erlässt der Kanton ein Gesetz, das die Aussscheidung der Güter der Einheitsgemeinde auf die neu zu schaffende Einwohner- und Bürgergemeinde regelt. [10]

Am 7. Februar stimmt die Gemeindeversammlung dem Ausscheidungsvertrag zu, am 28. die Bürgerversammlung. Der Präsident der Einwohnergemeinde, Kaspar Meier, hatte die aufwändigen und politisch heiklen Verhandlungen zur Aufteilung in die Einwohner-, Bürger- und Kirchgemeinde geleitet. [11] Die Einwohnergemeinde übernimmt den Schulfond, die dazu gehörenden Liegenschaften in Rumentikon und alles, was mit Polizei-, Militär-, Strassen- und Feuerwehrwesen zusammenhängt.

Der Bürgergemeinde verbleibt das Ortsbürgergut mit den Gebäulichkeiten und dem Umgelände sowie der Armenfond mit den dazu gehörenden Liegenschaften und Mobilien. [12]

Die Bürgergemeinde erhält gemäss Ausscheidungsvertrag das Neuhaus, das alte Gemeindehaus an der Schulhausstrasse, in welchem die Chamer Kinder damals zur Schule gehen. Dieser Entscheid ist umstritten, weil das Schulwesen in den Kompetenzbereich der Einwohnergemeinde fällt. Ein Rekurs von Heinrich Vogel-Saluzzi (1822–1893), Besitzer der Papierfabrik Cham, und Mitunterzeichnern zuhanden des Zuger Regierungsrats will erwirken, dass dieser Entscheid rückgängig gemacht und das Neuhaus in den Besitz der Einwohnergemeinde gelangt. [13]

Am 12. August genehmigt der Regierungsrat den Ausscheidungsvertrag, wie ihn Einwohner- und Bürgergemeinde Cham vereinbart hatten. Das Neuhaus bleibt in der Folge ein Zankapfel zwischen der Bürger- und der Einwohnergemeinde.

zum Artikel: Der Streit um das Neuhaus


Fazit

Durch die neue Kantonsverfassung von 1873 entstehen auf Gemeindeebene drei politische Körperschaften

Seit Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1848 konnten sich Schweizer Bürger zwar am Ort ihrer Wahl niederlassen, hatten dort aber auf Gemeindeebene keine politischen Rechte und durften nicht an der Gemeindeversammlung teilnehmen. Dieses Recht war den Bürgern, den Alteingesessenen vorbehalten. Deshalb sah der die Kantonsverfassung von 1873 eine Aufteilung der Einheitsgemeinde, in eine Bürger-, eine Einwohner- und eine Kirchgemeinde vor. [14] Um die Existenz der neuen Gemeinden - vorab der Einwohnergemeinden - zu sichern, verlangte der Entwurf eine förmliche Aufteilung des Vermögens der Einheitsgemeinde auf die drei neu zu schaffenden politischen Körperschaften. Befürworter dieser Aufteilung waren vor allem die Liberalen. [15]

1873 stimmte der Zuger Souverän der neuen Kantonsverfassung zu und teilte die Gemeinden in drei Körperschaften auf. Die Alteingesessen bilden die Bürgergemeinde, zur Einwohnergemeinde gehören die Alteingesessenen und die Zuzüger, zur Kirchgemeinde die Angehörigen einer Konfession.

1874 stimmte der Schweizer Souverän einer Totalrevision der Bundesverfassung von 1848 zu. Damit schrieb auch das übergeordnete schweizerische Recht vor, den männlichen Niedergelassenen aus anderen Orten oder Kantonen nach einer kurzen Übergangsfrist die Ausübung der politischen Rechte in der Gemeinde zu gewähren.

Bürgerprinzip oder Einwohnerprinzip? – Das war die Frage!

Bis 1874 gab es im Kanton Zug keine Trennung zwischen Bürger-, Einwohner und Kirchgemeinde. Durch die Industrialisierung war die Zuwanderung gestiegen. Zu den Alteingesessenen gesellten sich in industrialisierten Gemeinden wie Cham immer mehr Zuzüger. 1860 nahm die Weberei und Spinnerei Hagendorn ihren Betrieb auf. 1861 übernahm Vogel-Saluzzi Heinrich die Papiermühle und entwickelte sie zum Industriebetrieb. 1866 war das Geburtsjahr der Anglo-Swiss Condensed Milk Company.

1860 standen einem Gemeindebürger 1,2 Nichtbürger gegenüber, 1870 2,5 und 1880 4,2. Das Einwohnerprinzip wurde immer wichtiger. Die Zuzüger drängten darauf, in Gemeindeangelegenheiten mitbestimmen können. Ein zentraler Punkt der neuen Zuger Kantonsverfassung von 1873 war deshalb die Frage der politischen Rechte auf Gemeindeebene für Zugezogene.


Die demografische Entwicklung in Cham von 1850–1880

Gemäss der Volkszählung von 1850 lebten in Cham 1322 Menschen, 699 Männer und 623 Frauen. Cham war damit eine kleine Gemeinde (zum Vergleich: Menzingen zählte damals 2113 Einwohner) [16] Dann aber stieg die Einwohnerzahl mit der einsetzenden Industialisierung rasant an. Cham ist ab 1860 die mit Abstand am stärksten wachsende Gemeinde im Kanton Zug

•Anstieg der Wohnbevölkerung in Cham von 1850–1880 [17]

1850–1860 1860–1870 1870–1880 gesamthaft 1850-1880
Bevölkerungswachstum +22,3% +31.7% +39% +123,9%


•Die Veränderung der Chamer Wohnbevölkerung von 1860–1880 [18]

1860 1870 1880
Anteil der Gemeindebürger an der ansässigen Wohnbevölkerung 659 (40,8%) 589 (27,7 %) 556 (18,8 %)
Anteil der übrigen Kantonsbürger an der ansässigen Wohnbevölkerung 239 (14,8 %) 285 (13,4 %) 511 (17,3 %)
Anteil der übrigen Schweizerbürger an der ansässigen Wohnbevölkerung 566 (35 %) 1 202 (56,5 %) 1 808 (61 %)
Relation: Bürger:Nichtbürger 1 : 1,2 1 : 2,5 1 : 4,2
nichtkatholische Bevölkerung 117 192 258


Der erste Bürgerrat von 1874


Der erste Gemeinderat von 1874

  • Kaspar Meier (1828–1885), 1874–1880, FDP, Gemeindepräsident
  • Benedikt Wiss (1834–????), im Amt von 1874–1877, Konservative Partei
  • Johann Villiger, 1874–1877
  • Jakob Hildebrand (1833–1885), 1874–1879, Konservative Partei
  • Jost Hausheer (1818–1880), 1874–1879, Konservative Partei

→ zum Artikel Bürgergemeinde, Überblick


Einzelnachweise

  1. Matter, Gerhard, Der Kanton Zug auf dem Weg zu seiner Verfassung von 1876. Treibende Kräfte, tragende Ideen der Totalrevision der Jahre 1872–1876, Zug 1985 (Beiträge zur Zuger Geschichte), S. 118
  2. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 125
  3. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 127
  4. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 134
  5. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 143
  6. Kley, Andreas, «Bundesverfassung (BV)», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/ [Stand: 05.01.2024]
  7. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 158
  8. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 159
  9. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 159
  10. Anton Scherer, Die Bürgermeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 49
  11. Gruber, Eugen et al., Geschichte von Cham, Bd. 2, Cham 1962, S. 38, 308
  12. Anton Scherer, Die Bürgergemeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 49
  13. Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
  14. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 118
  15. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 122
  16. Glauser, Thomas / Hoppe, Peter / Schelbert Urspeter, 12 Bevölkerungsporträts: eine Auswertung der Volkszählung von 1850, in: Der Kanton Zug zwischen 1798 und 1850, Bd. 2, Zug 1998, S. 205, S. 110
  17. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 25
  18. Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 25
  19. Anton Scherer, Die Bürgergemeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 51