Einheitsgemeinde Cham (1798–1874)

Aus Chamapedia

Mit dem Einmarsch der Franzosen und der Etablierung der Helvetischen Republik erhielt die Gemeinde Cham zum ersten Mal eine eigene Gemeindebehörde und eine gemeindliche Autonomie. Cham war eine kleine, weitgehend geschlossene Gemeinde, die nach dem Bürgerprinzip funktionierte. Es gab bis in die 1860er-Jahre, als in Cham bedeutende Industriebetriebe entstanden, kaum Zuwanderung. Die Einwohner von Cham waren alteingesessen und katholisch. Bis 1874 gab es nur eine politische Körperschaft: die Einheitsgemeinde. Sie vereinte die Aufgaben der heutigen Bürger-, Einwohner und Kirchgemeinde.


Chronologie

Der Freiheitsbrief: Die Gemeinde Cham wird in die Unabhängigkeit entlassen, Erklärung der Stadt Zug, 17.02.1798

1798 Am 17. Februar erlässt die städtische Kanzlei in Zug das entscheidende Dokument, das den Vogteien der Stadt – damit auch Cham – die Befreiung aus dem Untertanenschaft zusichert. Gut 400 Jahre war Cham eine stadtzugerische Vogtei.

Cham wird zu einer gleichberechtigten Zuger Gemeinde. Dies geschieht wenige Tage bevor die französischen Truppen, die am 24. Januar in die Eidgenossenschaft einmarschiert sind, auch den Kanton Zug erreichen. [1]

Am 12. April legt Frankreich für das schweizerische Gebiet ein neues Grundgesetz und eine neue politische Struktur fest. In diesem neuen Staatswesen, der Helvetischen Republik, entsteht die freie Municipalität Cham, d.h. die moderne, alle Einwohner umfassende Gemeinde Cham. [2]

Am 29. April marschieren französische Truppen in Cham ein und plündern die Bevölkerung aus. (vgl. unten der Bericht des Chamer Sakristans Oswald Villiger)

Am 21. November tagt der Gemeinderat der «Provisorische[n] Municipalitet der Gemeinde Zu Chamm» zum ersten Mal. [3]

Folgende Männer bilden den ersten Gemeinderat: Präsident Alois Hausheer (1760–1846) aus der Blegi, Michael Stutz (1765–1839) aus Lindencham, Heinrich Wiss aus Hatwil, Jakob Hildebrand von Bibersee, Melchior Gretener im Städtli, Xaver Ritter aus Lindencham und Sekretär Melchior Bütler. [4] Der Gemeinderat setzt sich aus Vertretern aus den verschiedenen Chamer Weilern zusammen. Die Gesamtheit der Kirchgenossen von Cham und Hünenberg ist anfänglich die massgebende politische Behörde. Sie regelt die anstehenden Fragen und besetzt Ämter. [5]

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Die Namen des ersten Einwohnerrates im ersten Protokoll, 21.11.1798


Eine Gemeindeautonomie, wie wir sie heute kennen, ist damit aber nicht gegeben. Mit der Helvetischen Verfassung erhält die Schweiz zwar das erste moderne Grundgesetz im Sinn der Aufklärung. Ihr Zentralismus lässt jedoch weder den Kantonen noch den Gemeinden Raum für eine Selbstverwaltung, wie wir sie heute kennen. [6] Die Aufgaben der Munizipalität bestehen in der Polizeiarbeit im weitesten Sinne, dem Zivilstandswesen, der öffentlichen Beurkundung und der Vormundschaftspflege und dem Armenwesen. [7]

1799 Im Frühjahr wählen die Chamer Männer zum ersten Mal ihre Gemeindebehörden. [8] Am 5. April treten in Cham die über 20-jährigen und damit stimmfähigen Männer zusammen. Die «Urversammlung» wählt die «ersten Munizipalbeamtenden» – also die Ratsherren, den Schreiber und den Weibel – und setzt deren Besoldung fest. Mit 66 von 122 Stimmen wird Bauer Alois Hausheer aus der Plegi zum ersten Gemeindepräsidenten gewählt. Als Entlöhnung erhält er jährlich «15 französische thaller oder 60 francen»- [9] Der neue, fünfköpfige Chamer Gemeinderat wird mit Michael Stutz, Jakob Hildebrand, Heinrich Wiss und Josef Luthiger komplettiert. Dazu kommen drei Suppleanten [= Stellvertreter, Ersatzmänner], nämlich Jakob Fähndrich, Xaver Ritter und Thomas Bütler.

Mit dieser «Urversammlung» verbunden ist die Trennung der politischen Gemeinden Cham und Hünenberg: «Eß ist beschlossen worden, dieweillen Chamm und Hünenberg sich zertheillen und jedere Gemeinde für sich selbst einne eigene Munizipalitet von heüt an bilden wird, so solle zu der Seperation und Rechnung geschritten werden.» [10]

Fortan findet jeweils im Frühling eine Hauptversammlung der Bürger statt, die jährliche Maiengemeinde. Die Bürger finden sich nach öffentlichem Ausruf unter freiem Himmel beim «Raben» auf dem Kirchbüel ein. [11]

Gemeindesiegel von Cham 1799, Schriftzug: Helvetische Republik, Municipalität von Cham


1803-1813 Nachdem Frankreich eingesehen hat, dass die Schweiz als Einheitsstaat nach dem Vorbild Frankreichs nicht funktionieren kann, wird mit der Mediationsverfassung die frühere kommunale Organisation auf der Basis des Bürgerprinzips – damit auch die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden – teilweise wiederhergestellt. [12]

1814 Als sich das Ende der französischen Vorherrschaft in Europa abzeichnet, gibt sich der Kanton Zug eine neue Verfassung. Sie ist vom Gedanken der Restauration geprägt und legt für Zug den katholischen Glauben als offizielles Bekenntnis fest. Garantiert wird jedoch die Gleichberechtigung aller Kantonsbürger, der Loskauf von Zehnten und Zinsen und die Gewährleistung des Eigentumsrechtes der geistlichen Gemeinschaften und weltlichen Korporationen. Die Erteilung des Gemeindebürgerrechts sowie der Niederlassungsbewilligung, so weit es nicht um Kantonsbürger geht, liegen in der Kompetenz der einzelnen Gemeinden. Cham nimmt diese Verfassung am 28. August einstimmig an. [13]

1819 Die Gemeinde erlässt eine Wirtschafts- und Tavernenordnung. [14]

1824 Die von der Hungerkrise von 1816/1817 hervorgerufene Notlage und ihre Folgen zwingen auch die Behörden in Cham zu einer Verbesserung bei der Armenfürsorge. Das ehemalige Gasthaus «Bären» wird am 23. Dezember zu einem Waisen-, Armen- und Schulhaus umgenutzt. [15] Der Gemeindepräsident steht einer 17-köpfigen (!) Armen- und Waisenkommission vor, wobei ein 7-köpfiger Ausschuss die Geschäfte führt. Ebenfalls wird im ehemaligen «Bären» eine Schulstube eingerichtet (bis 1858). [16]

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Der «Rote Bären», das einstige Armenhaus an der Obermühlestrasse, um 1985


Die Gemeinde erlässt Bestimmungen zum Erbrecht und zur Steuerpflicht auswärts wohnender Bürger. [17]

1848 Die Bundesverfassung von 1848 ist die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die sich das Schweizer Volk selbst gibt. Darin wird die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer verankert, das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten bleibt jedoch den alteingesessen Gemeindebürgern vorbehalten. Die Bundesverfassung von 1848 orientiert sich am Bürgerprinzip. [18]

1854 Am 30. April beschliesst die Gemeindeversammlung, den Schulfond vom Armenvermögen zu trennen. Dem Schulfond werden 13'400 Franken zugeschlagen; dem Armenfond verbleiben 29'370 Franken. [19]

1855 Die Gemeinde kauft das «Neuhaus» an der Schulhausstrasse 1. [20]

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Das «Neuhaus», kurz bevor es die Gemeinde 1855 erwarb und darin die Chamer Schule einrichtete


1858 Die Schule zieht vom «Bären» um ins «Neuhaus». [21]

1873 Am 26. April legt eine vorberatende Kommission dem Zuger Regierungsrat den Entwurf für eine revidierte Kantonsverfassung vor, wonach die Gemeinden in drei Körperschaften aufgeteilt werden sollen: in eine Bürger–, eine Einwohner– und in eine Kirchgemeinde. Damit soll einerseits das Gut der Bürger geschützt werden, andererseits sollen die niedergelassenen Nichtbürger an der Gemeindepolitik teilhaben können. [22]

Am 14. Dezember stimmt die Zuger Stimmbevölkerung bei einer Stimmbeteiligung von 78% mit 2199 Ja (= 60 %) für die Annahme der neuen Kantonsverfassung. Das bedeutet nach 75 Jahren das Ende der Einheitsgemeinde und den Beginn einer neuen staatsrechtlichen Ära im Kanton Zug. [23]


Bericht des Chamer Sakristans Oswald Villiger über den Einmarsch französischer Truppen in Cham am 29. April 1798

«Allhier der Einzug: Den 29ten tag Abrill alss der letzte Sonntag des Monats, da man in unser Pfahrkirchen in Cham, dass Hochwürdige Gueth (= eine geweihte Hostie) Nachmittag öffentlich aussgesetzt mit abbethung der 3 Heiligen Rosenkräntz Segpsellter abzubethen, vordrist zu lob und Ehre Gottes, auch Seiner gelobten Mutter Maria, und aller lieben Heiligen mit Eyffer und andacht angestellt, um Erhaltung des liben Fridens, zur Seel und leibserhaltung im Leben und zu Sterben-vorderst auch zur dankbarkeit der empfangenen Gnaden und Guetthaten schuldiger Massen abzustatten, mit höchstem eyffer und andacht (dann ville haben geglaubt die Franzossen kommen nicht). Ja, ja, sye seind kommen, am Sonntag nachmittag um 2 Uhr kamen 4 Hussaren, und fragten des Sygristen Frau welche strass auf Luzern. Sy zeigt ihnen, fuhren forth gegen den Rappen (= Restaurant Raben) hinauff und schiessen alldorten, 2 andere Hussaren hat die Frau müesen ein früschen trunck Wasser auf ihr pferd hinauf geben. Zugleich erwütschten sy ein Paur, und forderten ihm sein gelt, welche sich entschuldigen mit gebogenem knyen, welches aber alles nicht hat erkleken wollen, biss er endlich mit den dublohnen herauss kommen ist, welche der Hussar genommen, und mit seinem gespann zur Kirchen hinauff und hinein geritten, mit offenem Schwerdt in der Hand. Die leuth in der Kirchen wahren an dem zweyten Rosenkrantz, welch sy bey dem vorgestellten Hochwürdigen Gueth gebethet haben, da seind sye im halben Rosenkrantz von den Hussaren verstört worden, auff welches man das Hochwürdige Gueth geschwind in der Stille in den Tabernakel gethan. Da Seind die Hussaren bis ins Chor sambt den Pferden gefahren, mit Sagen: geld här, die Sackuhr und all anderes Silber, welches sye villen ab dem halls und Händen gerissen haben. Der Caplan vom Stetle hat seyn Geld und Sackuhr, und ich Sigrist im Chor auff ihr pferdt hingeben müssen, was wir gehabt haben. Da die Hussaren in Kirchen eingeritten mit Ruffen: Geld här, da war das Volk erschrocken, welche sich in die Flucht gewagt, einige zur Kirchen hinauss, andere in der kirchen dachstuell hinauf. Sobald die Kirchen lär geworden, so seind die Hussaren auch hinaus, haben selbe über Heg und Gräben gesprengt, und wann sye einer erdacht, so haben sye über selben gantz ausgeplündert. Sobald widerum Leuth in die Kirchen hinunder gekommen seind zum fliehen, so seind in mediate schon wiederum 2 Jahre hussaren alda. Ich hab selbsten sollen zum 2ten Mahl geld här geben in der Kirchen im Chor, Chor här Alle Gäld her, auff welches ich ein 5 Züryschilling gehabt hab nix mehr als dieses, dass ich hab vorhär schon allhier müessen härgeben. Sye kommen auch mich visidieren. Auf diss sagt der einte zum andern hussar: Lass ihn gehen, es ist ein alter Mann, und seind forth zur Kirchen hinaus. Da war die Kirchen wiederum lähr. Auff diss kamen die übrigen leuth widerum vom dachstuel hinunter. Da seind die hussaren schon widerum da wie zuvor, da alles der kirchen widerum getrieben wase da seind die hussaren auch forth — und seind hernach in die häusser gezogen und selbe auch ihr Silber und Gelt werdt herauss gepresst. Diss hat das Volk dergestalten geplagt, dass sy nüt wüssten wo auss und an. Ville seind geflohen zum Kirchgang hinaus, ville haben sich sonst versteckt, in ihre scheur und anderen gebeuwen, und auch in Wälder und all anderen Orthen sich versteckt haben.» [24]


Fazit

Mit dem Ende der Untertanenschaft der Stadt Zug wurde Cham zu einer gleichberechtigten Zuger Gemeinde. Die Chamer Männer trafen sich ab 1799 zu Gemeindeversammlungen unter freiem Himmel, regelten dort in demokratischen Abstimmungen die anstehenden Geschäfte und wählten die Gemeindebehörden.

Die politischen Rechte standen allerdings nur den Bürgern, den Alteingessenen zu. Zwar sicherte die Bundesverfassung von 1848 allen Schweizern die Niederlassungsfreiheit zu. Zugezogene durften aber bis 1874 in ihrer Wohngemeinde nicht an den Gemeindeversammlungen teilnehmen, wie heute die Ausländer. Die Frage, ob Zugezogene/Einwohner auf Gemeindeebene auch politische Rechte haben sollen, wurde nach 1848 immer zentraler.

Es ging darum, ob auf Gemeindeebene das Bürgerprinzip oder das Einwohnerprinzip Vorrang haben soll. Durch die ab 1860 einsetzende Industrialisierung entwickelte sich Cham sehr schnell. Immer mehr Nichtbürger liessen sich in Cham nieder.


Einzelnachweise

  1. Wolf, Otto et al., Geschichte von Cham, Bd. 1, Cham 1958, S. 318
  2. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 320f.
  3. Einwohnergemeindearchiv Cham, Gemeinderatsprotokolle 1798–1814 (Transkription)
  4. Einwohnergemeindearchiv Cham, Gemeinderatsprotokoll 1798–1818
  5. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 321
  6. Kley, Andreas, «Bundesverfassung (BV)», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/ [Stand: 21.12.2022]
  7. Steiner, Peter / Ladner, Andreas, «Gemeinde», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.04.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010261/2013-04-05/ [Stand: 24.10.2023]
  8. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 322
  9. Einwohnergemeindearchiv Cham, Gemeinderatsprotokoll 1798–1818
  10. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 323
  11. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 323
  12. Kley, Andreas, «Bundesverfassung (BV)», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/ [Stand: 21.12.2022]
  13. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 326
  14. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 323
  15. Staatsarchiv Zug, G 617.6.1, Assekuranzregister Cham, 1. Generation (1813–1868)
  16. Gruber, Eugen et al., Geschichte von Cham, Bd. 2, Cham 1962, S. 54–58
  17. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 324
  18. Kley, Andreas, «Bundesverfassung (BV)», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/ [Stand: 21.12.2022]
  19. Vgl. Anmerkung 16 (Gruber et al.), S. 53
  20. Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
  21. Vgl. Anmerkung 1 (Wolf et al.), S. 274
  22. Gerhard Matter, Der Kanton Zug auf dem Weg zu seiner Verfassung von 1876, Treibende Kräfte, tragende Ideen der Totalrevision der Jahre 1872-1876, Zug 1985, S. 118 (Zuger Beiträge zur Geschichte 5)
  23. Vgl. Anmerkung 22 (Matter), S. 143
  24. Neue Zürcher Nachrichten, 05.11.1943 (Ausgabe 03)