Bürgergemeinde Cham, Der Streit um das «Neuhaus»
Die Zustimmung zur neuen Zuger Kantonsverfassung 1873 bedeutete gleichzeitig das Ende der Einheitsgemeinde. Die Kantonsverfassung sah die Schaffung einer Bürger-, einer Einwohner- und einer Kirchgemeinde vor und verlangte eine Güterausscheidung zwischen diesen drei gemeindlichen Körperschaften. Die Aufteilung der Güter in Cham ging 1875 auffallend schnell über die Bühne, gab aber von Anfang an zu Diskussionen Anlass. Im Brennpunkt stand die Frage, wem das «Neuhaus» zusteht. Dies führte zu einem erbitterten Seilziehen zwischen den Bürgern und den Niedergelassenen.
Das alte Gemeindehaus, früher «Neuhaus» genannt, war Zankapfel zwischen der Bürger- und der Einwohnergemeinde
Chronologie
1873 Am 14. Dezember stimmt die Zuger Stimmbevölkerung der neuen Kantonsverfassung zu. [1] Damit ist klar, dass die Einheitsgemeinden im Kanton Zug in drei Körperschaften, die Einwohner-, die Bürger- und die Kirchgemeinde aufgeteilt werden müssen. Diese Kantonsverfassung muss 1876 revidiert werden, weil Bundesbern verlangt, dass acht Artikel der Zuger Verfassung revidiert werden müssen. [2] Deshalb wird oft von der Zuger Verfassung 1873/1876 gesprochen.
1874 Im Mai und Juni finden in Cham die Wahlen in den Einwohnerrat, den Bürgerrat und den Kirchenrat statt. Diese Wahlen gehen ruhig über die Bühne und führen in allen Räten zu Mehrheiten der katholisch-konservativen Partei. [3] Im Einwohnerrat sind damals drei Bürger und zwei Niedergelassene vertreten. [4] Gemeindepräsident ist Kaspar Meier (1828–1885) von Bibersee, der einzige Liberale im Einwohnerrat.
Am 5. Dezember, noch vor der ersten Lesung des Ausscheidungsgesetzes im Kantonsrat, beginnt der Einwohnerrat mit dem Bürgerrat, in dem ausschliesslich konservative Ortsbürgern sitzen, einen provisorischen Ausscheidungsvertrag auszuhandeln.
1875 Am 14. Januar, vier Tage bevor das Ausscheidungsgesetz vom Kanton verabschiedet wird, stimmt der Einwohnerrat dem Ausscheidungsentwurf zwischen Bürger- und Einwohnergemeinde einstimmig zu. Präsident Meier wollte den Passus weggelassen, wonach der Religionsunterricht wie bisher katholisch geführt werden soll. Für das «Neuhaus», das die Bürgergemeinde für sich beanspruchte und der Einwohnergemeinde als Schulhaus vermieten wollte, hätte Meier statt der Formulierung «gegen angemessenen Mietzins» «gegen billigen Mietzins» bevorzugt. [5]
Am 18. Januar erlässt der Kanton ein Gesetz, das die Aussscheidung der Güter der Einheitsgemeinde auf die neu zu schaffende Einwohner- und Bürgergemeinde regelt. [6]
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Der konservative Ortsbürgerblock im Einwohnerrat unter der Führung von Jakob Hildebrand (1833–1885) drückt auf das Tempo. Am 7. Februar, noch bevor die Einsprachefrist gegen das Ausscheidungsgesetz verstrichen ist, findet die Versammlung der Einwohnergemeinde statt, die sehr gut besucht ist, vor allem von den Chamer Bürgern. [7] Umstritten ist, wem das «Neuhaus» gehören soll, das alte Gemeindehaus an der Schulhausstrasse 1, in welchem die Chamer Kinder damals zur Schule gehen. Gemäss Teilungsvertag soll es an die Bürgergemeinde gehen.
Die Niedergelassenen argumentieren, das «Neuhaus» sei als Schulhaus erworben worden und müsse deshalb der für das Schulwesen zuständigen Einwohnergemeinde gehören. Zudem führen sie ins Feld, das «Neuhaus» sei auch von den Niedergelassenen finanziert worden, die zwar bis 1874 keine politischen Rechte besassen, aber auch Steuern bezahlen mussten. Die Bürger vertreten den Standpunkt, dass das Haus von den Bürgern finanziert und für die Bedürfnisse der Bürger gekauft worden sei.
Ein Chamer Bürger stellt den Antrag, dass das Geschäft nochmals geprüft werden soll, blitzt aber ab. Ein Sprecher der Niedergelassenen fordert die Versammlung auf, gegen die Empfehlung des Einwohnerrats zu stimmen. Gleichwohl stimmt die Einwohnergemeindeversammlung dem Teilungsvertrag zu. [8]
Am 13. Februar erscheint in der Presse ein Aufruf mehrerer Niedergelassener an sämtliche steuerpflichtigen Niedergelassenen in der Gemeinde Cham. Sie wollen die Reihen unter den Niedergelassenen schliessen, sie nach der Gemeindeversammlung vom 7. Februar politisch mobilisieren und laden deshalb am 14. Februar zu einer Versammlung ins Wirtshaus zur «Linde» im Kirchbühl ein. [9] In dieser Versammlung soll der Vertrag zur Ausscheidung der Gemeindegüter unter den in Cham Niedergelassenen besprochen werden. Da es laut Ausschreibung um grosse Interessen der Niedergelassenen geht, hoffen die Initianten auf rege Teilnahme. [10] Mehr als 80 Niedergelassene nehmen an dieser Versammlung teil. Sie beschliessen, gegen den Entscheid der Gemeindeversammlung Protest einzulegen. Sie argumentieren mit dem Steuerertrag von Cham, zu dem die Niedergelassenen zwei Drittel beitragen und damit, dass das «Neuhaus» als Schulhaus erworben worden sei. [11] In Cham leben damals über 70% Niedergelassene/Zugezogene. [12]
Am 28. Februar tagt auch die Bürgergemeinde und stimmt dem Teilungsvertrag zu. [13] Damit scheint die Sache klar. Das «Neuhaus» geht an die Bürgergemeinde. Es wird vereinbart, dass die Einwohnergemeinde das «Neuhaus» gegen einen Zins als Schulhaus nutzen kann. [14] Die Einwohnergemeinde übernimmt den Schulfonds, die dazu gehörenden Liegenschaften in Rumentikon und alles, was mit Polizei-, Militär-, Strassen- und Feuerwehrwesen zusammenhängt. Der Bürgergemeinde verbleibt das Ortsbürgergut mit den Gebäulichkeiten und dem Umgelände sowie der Armenfonds mit den dazu gehörenden Liegenschaften und Mobilien. [15]
Am 20. März nimmt der Einwohnerrat Kenntnis von einem Protestschreiben gegen den Entscheid, das «Neuhaus» der Bürgergemeinde zuzuweisen. Unterzeichnet ist er von den Herren Heinrich Vogel-Saluzzi (1822–1893), Posthalter Jost Burri (1834–1896), Felix Hofmann, Josef Stuber (1844–1932) und Franz Josef Meier aus Hagendorn, im Namen einer grösseren Anzahl Niedergelassener. [16]
Vogel-Saluzzi, Besitzer der Papierfabrik Cham reicht auch eine Beschwerde an den Bundesrat ein gegen die Gründung von separaten beziehungsweise konfessionellen Schulgemeinden. Diese hat Erfolg und ist mit ein Grund dass der Kanton Kanton die 1873 angenommene Verfassung 1876 revidieren muss. [17]
Nach dem Protestschreiben an den Einwohnerrat rekurriert Vogel-Saluzzi mit Mitunterzeichnern auch zuhanden des Zuger Regierungsrats. Die Einsprecher zweifeln die Rechtmässigkeit der Chamer Güterausscheidung an und wollen erreichen, dass das «Neuhaus» in den Besitz der Einwohnergemeinde gelangt. [18]
Am 8. Juli diskutiert die Verwaltungskommission des Kantons erstmals über den von der Einwohner- und der Bürgergemeinde Cham ausgehandelten Ausscheidungsvertrag und zwei Einsprachen dagegen. Im Zentrum steht die Frage, ob das «Neuhaus» als Schulhaus erworben worden sei. [19]
Am 12. August genehmigt der Regierungsrat den Ausscheidungsvertrag mit vier gegen eine Stimme und lehnt den Rekurs mit folgender Begründung ab: Weil sich die beiden Chamer Behörden so geeinigt hätten, und die Einwohner- und die Bürgergemeindeversammlung zugestimmt haben, sei die Güterzuweisung rechtens. [20] Regierungsrat Hildebrand durfte «als Ortsbürger von Cham» nicht mitstimmen. [21]
Darauf rekurrieren Heinrich Vogel-Saluzzi und seine Mitunterzeichner erneut. Der Regierungsrat bleibt bei seiner Beurteilung, setzt aber eine kantonsrätliche Kommission ein. [22]
1876 Am 23. April findet die Abstimmung über die revidierte Kantonsverfassung statt. Bei einer Stimmbeteiligung von 32,5 % stimmen die Zuger Stimmberechtigten der Revison der vom Bund zurückgewiesenen Artikel der Verfassung von 1873 zu, auch dem Punkt, gegen den Vogel-Saluzzi beim Bundesrat geklagt hatte, gegen die Gründung von separaten beziehungsweise konfessionellen Schulgemeinden. Die anderen angedachten Änderungen wurden abgelehnt. [23]
Nach der Behandlung eines Rekurses erklärt der Kantonsrat am 15. Mai jene Artikel für angenommen, welche die Revision der Verfassung von 1873 betreffen, also jene, die dem höher gestellten Bundesrecht widersprachen, [24]
An der Kantonsratssitzung vom 1. Juni wird die Causa «Neuhaus» verhandelt. Die Mehrheit ist der Ansicht, dass der Kanton nur eingreifen könnte, wenn die Chamer bei ihrem Entscheid kantonales Recht oder das Ausscheidungsgesetz von 1875 verletzt hätten. Eine Kommissionsminderheit votiert für ein Eintreten auf den erneuten Rekurs. Für sie geht es um die Frage, zu welchem Zweck die Gemeinde Cham das «Neuhaus» 1855 erworben habe. Wenn es als Schulhaus gekauft worden sei, müsste das «Neuhaus» ganz klar der Einwohnergemeinde zugeteilt werden. Das Protokoll zum Kauf des «Neuhaus» bringt keine Klärung, da es unklar abgefasst ist. [25]
Der Chamer Gemeindeschreiber und Kantonsrat Moritz Baumgartner (1844–1900) stellt in der Debatte in Abrede, dass das «Neuhaus» als Schulhaus erworben worden sei, er konfrontiert einen der Rekurrenten, Friedensrichter und Kantonsrat Mathias Gretener (1818–1898), damit, sich bereits 1864 vehement dafür eingesetzt zu haben, dass das «Neuhaus» nicht dem Schulfond zugewiesen werde. [26] , auch 1874 habe sich Gretener an der Gemeindeversammlung gleich geäussert. [27]
Regierungsrat Josef Bossard (Liberale) [28] argumentiert, wenn ein Haus 20 Jahre als Schulhaus gedient habe, sei die Zweckbestimmung hinreichend geklärt. Er bezichtigt die Chamer Bürgergemeinde, das «Neuhaus» im stetig wachsenden Cham zum Spekulationsobjekt zu machen. [29]
In der Schlussabstimmung wird der Antrag der Kommissionsmehrheit mit 43 zu 17 Stimmen angenommen. Das «Neuhaus» bleibt im Besitz der Bürgergemeinde. [30]
Die Causa «Neuhaus» wird von den Rekurrenten vor Bundesgericht weitergezogen.
Das «Neuhaus», kurz bevor es die Gemeinde 1855 erwarb und darin die Chamer Schule einrichtete
1877
Am 30. Juni spricht das Bundesgericht sein Urteil. [31] Es spricht den Klägern die Legitimation zur Klage ab. Nur die Einwohnergemeinde wäre klageberechtigt gewesen. Zudem sei der Rekurs nicht fristgerecht eingereicht worden. Die Kläger müssen die Kosten von insgesamt ca. 50 Franken tragen. Die Kommentare zum Urteil des Bundesgerichtes sind je nach politischer Couleur sehr bissig. [32]
Hätte die Einwohnergemeinde geklagt, wäre das Bundesgericht zuständig gewesen. Laut Bundesgericht hätten keine Zweifel bestanden, dass das «Neuhaus» der Einwohner-Gemeinde Cham zusteht. Die Bundesrichter finden es unbegreiflich, dass der Einwohnerrat die Teilung hinnahm, und dass die Zuger Behörden die Zuteilung des Chamer Schulhaus an die Bürgergemeinde nicht rückgängig gemacht haben, nachdem den Einwohnergemeinden mit der Verfassung von 1873 das Schulwesen übertragen worden war. [33]
Am 16. Dezember verabschieden die Versammlungen der Einwohner- und der Bürgergemeinde die für das «Neuhaus» ausgehandelte Miete von jährlich 600 Franken. Der Bürgerrat hält fest, dass dieser Zins wegen der laufenden Kosten für den Unterhalt des Hauses und wegen bereits beschlossenen Baumassnahmen sehr gering sei. [34]
1878 Kurz nachdem das «Neuhaus» vom obersten Schweizer Gericht letztinstanzlich der Bürgergemeinde zugesprochen worden ist, beginnen Verhandlungen über den Verkauf des «Neuhaus» an die Einwohnergemeinde. Im Protokoll des Einwohnerrats vom 14. März ist festgehalten, dass die Bürgergemeinde bezüglich des Verkaufes des «Neuhaus» mit der Einwohnergemeinde verhandle. Der Bürgerrat bestehe auf 52'000 Franken, auf einer Verzinsung von 4,5 % für die Kaufrestanz und stelle die Bedingung, dass das Umgelände des «Neuhaus» nicht verkauft werden dürfe. Der Einwohnerrat schlägt die Forderungen der Bürgergemeinde Ende März als zu hoch aus. [35]
Am 22. April zeigt sich der Bürgerrat bereit, den Verkaufspreis auf 50'000 Franken zu senken, beharrt jedoch auf der Verzinsung der Kaufrestanz zu 4,5%. Der Einwohnerrat hält diese Bedingungen noch immer für überrissen. Um ein Scheitern der Verhandlungen zu verhindern, schlägt er eine Verzinsung von 4,25% vor. Der Einwohnerrat ersucht den Bürgerrat, auf dieses Angebot einzutreten und es der Bürgergemeindeversammlung zur Abstimmung zu unterbreiten. [36] Der Bürgerrat hält die Offerte der Einwohnergemeinde weiterhin für unannehmbar, lässt jedoch die Bürgergemeindeversammlung am 12. Mai entscheiden. [37]
Am 12. Mai findet im Raben um 13 Uhr eine Bürgergemeindeversammlung statt. Haupttraktandum ist die Behandlung des Kaufangebotes der Einwohnergemeinde für das «Neuhaus» samt Umgelände. Um 14 Uhr findet ebenfalls im Raben eine Einwohnergemeindeversammlung statt. Haupttraktandum: Antrag des Einwohnerrates bezüglich Ankauf des «Neuhaus» samt Umgelände. [38]
Der Bürgerrat unterbreitet der Bürgerversammlung den Antrag, das «Neuhaus» für 50 000 Franken und einem Zins von 4,5% für die Kaufrestanz an die Einwohnergemeinde zu verkaufen. Das Kaufobjekt soll dem Schulgut einverleibt und diesem Zweck niemals entfremdet werden. Weder grössere noch kleinere Parzellen dürfen als Privatbauplätze veräussert werden. Die Bürgergemeinde will sich das Recht vorbehalten in einem beliebigen Schulsaal ihre Bürgergemeindeversammlungen zu halten; ebenso soll für alle Zukunft der römisch–katholische Religionsunterricht im «Neuhaus» stattfinden können. Die Bürgergemeindeversammlung stimmt diesem Antrag mit 59 gegen 3 Stimmen zu. [39]
An der anschliessenden Einwohnergemeindeversammlung wird die Offerte der Bürgergemeinde nach einer intensiven Diskussion mit 103 gegen 53 Stimmen abgelehnt.[40] Ein grosser Teil der Einwohner, wohl vor allem Niedergelassene, stehen demnach nicht hinter dem Einwohnerrat. [41] Nach dieser Niederlage des Einwohnerrats wird eine Kommission von 5 Mitgliedern beauftragt mit dem Bürgerrat erneut zu verhandeln. Das «Neuhaus» mit sämtlichem Umgelände soll servitutfrei, also ohne Nutzungsrechte der Bürgergemeinde, an die Einwohnergemeinde übergehen. [42]
Am 10. Oktober berät der Einwohnerrat den von der Kommission der Einwohnergemeinde mit der Bürgergemeinde ausgehandelten Vorschlag und hält ihn einstimmig für nicht akzeptabel. [43]
1879 Am 10. Mai beschliesst der Einwohnerrat, den neu ausgearbeiteten Kaufvertrag der Einwohnergemeindeversammlung zur Abstimmung vorzulegen. [44]
Am 8. Juni stimmt die Einwohnergemeinde dem Kaufvertrag zu, wenn auch einige prominente Chamer den Betrag nach wie vor überrissen finden. [45]
Am 29. Juni stimmt auch die Bürgergemeindeversammlung dem Verkauf zu. Auch an dieser Versammlung gibt es Einsprachen, einige Votanten halten den Verkaufspreis für zu tief. [46] Das «Neuhaus» wird für 50'000 Franken an die Einwohnergemeinde verkauft. Die Kaufrestanz von 28 000 Franken wird zu 4,5 % verzinst. Die Bedingung des römisch–katholischen Religionsunterrichts im «Neuhaus» wird fallen gelassen. Die Bürgergemeinde besteht jedoch darauf, in einem Schulsaal ihre Bürgerversammlungen unentgeltlich halten zu können. [47]
Am 23. August genehmigt der Regierungsrat den Verkauf des «Neuhaus» und zieht einen Schlussstrich unter diese Affäre. Der Regierungsrat hält fest, dass «dadurch eine tief eingreifende Gemeindefrage einen ruhigen Abschluss gefunden hat». [48]
Bürger vs. Niedergelassene – das Ringen um das «Neuhaus» in der Presse
Die Presseartikel von 1875 zur Frage, wem das «Neuhaus» zusteht, zeugen von starken Emotionen:
In der katholisch-konservativen «Neuen Zuger Zeitung» werden die Intianten für die Versammlung der Niedergelassenen von 1875 und die Rekurrenten gegen den Ausscheidungsvertrag mit bissigen Kommentaren eingedeckt:
«Die Richtigkeit unserer eingeholten Informationen vorausgesetzt, so haben von diesen aufgetretenen „Rednern" bis jetzt zwei davon an unsern Gemeindehaushalt kaum so viel, bezahlt, um daraus einen entsprechenden Thürkloben für unser Gemeindhaus anzuschaffen, und auch seitdem wir das Glück haben, den Dritten dieses Rednerkleeblattes in unserem Gemeindsrayon zu besitzen, hat durch ihn unser Steuerkapital nicht zugenommen. Wenn diese Herren dessenungeachtet die „Vollblutbürger" aus ihrem lang jährigen Besitzthum hinauswerfen wollen, so kann man ihnen dieses Unterfangen — angesichts ihrer sonstigen Verdienste (?) — freilich nicht verargen. (...) Wer denselben zuerst zu diesen bürgerlichen Rechten verholfen, dies zu fragen, wäre von uns zu unbescheiden. Es genügt diesen Herren, einmal ins gelobte Land eingezogen zu sein, um sogleich die Geisel über das unverschämte Bürgerthum zu schwingen und an demselben die Jahre lang erduldete Unbill zu rächen.» [49]
1877 schreibt die «Neue Zuger Zeitung» über den Chamer Bürger Mathias Gretener, der sich im Sinn der Einwohnergemeinde geäussert hatte:
«So blieb es dem Bürger Mathias Gretener vorbehalten, dieß an der darauf folgenden Bürgergemeinde zu thun. Um aber der Sache bessere Form und Gestalt zu geben, hatten sich nachträglich noch vier theils stimm-, theils nicht stimmberechtigte Niedergelassene und ein in Zürich domizilirender Fabrikdirektor daselbst im gleichen Sinne verwendet.» [50]
Im Pressetext von 1875 ist die Passage „die Vollblutbürger aus ihrem lang jährigen Besitzthum hinauswerfen" sehr auffällig, zudem der Vorwurf, die Niedergelassenen hätten nichts zu den Gemeindefinanzen beigetragen. Im Artikel von 1877 wird Mathias Gretener explizit als Bürger bezeichnet. Dies ist wohl eine Spitze gegen ihn, der zwar Bürger ist, deren Interessen aus Sicht des Schreibers aber verrät. Die Aussagen zu den Niedergelassenen und zum nicht namentlich genannten, aber allen bekannten Direktor der Papierfabrik tun ein Übriges.
Das liberale «Zuger Volksblatt» schreibt nicht weniger bissig. Bevor die Versammlungen der Bürger- und der Einwohnergemeinde stattfinden, kommentiert es wie folgt:
«Nächsten Sonntag den 12. finden hier zwei Gemeindeversammlungen statt, [.] die der Bürger über „Behandlung des vom Einwohnerrath Cham eingereichten Kaufangebotes für das «Neuhaus» mit etwas Umgelände, nebst bezüglichem Antrag ab Seite des Bürgerrathes" . Um 2 Uhr soll dann Einwohnergemeindeversammlung abgehalten werden über: „Antrag des Einwohnerrathes betreffend Ankauf des «Neuhaus» mit etwas Umgelände". Wir finden diese Einrichtung nicht passend, denn der Antrag des Einwohnerrathes liegt auf dessen Kanzlei den Einwohnern laut Auskündung nicht zur Einsicht vor, sondern sie sind auf das Sagenhören angewiesen. Es wäre in dieser wichtigen Angelegenheit gewiß besser gewesen, daß die Einwohnergemeindeversammlung erst 8-14 Tage nach der Bürgergemeindeversamnllung abgehalten worden wäre, um an der Hand der Beschlüsse der letzten definitive, mit den nöthigen öffentlichen Auseinandersetzungen versehene Anträge vor die Versammlung zu bringen. Wichtige Vorlagen nur so an der Gemeindeversammlung ablesen zu hören, deren Tragweite nicht mit Muße erwägen zu können, sein Ja oder Nein sofort darüber sprechen zu müssen, das ist wahrlich nicht vom Guten. (...) Wie die Sachen nun stehen, so ist eine Abänderung nicht mehr möglich; die obbezeichneten Gemeindeversammlungen finden statt. Darum auf! Ihr Niedergelassene! kommt am Sonntag an die Gemeindeversammlung. (...) Suchet durch vereintes Vorgehen eine allfällige Überrumplung zu vereiteln und kaufet keine Katze im Sack!» [51]
Der Journalist des «Zuger Volksblattes» kritisiert die mangelnde Transparenz der Vorlage, da keine öffentliche Einsicht möglich ist und damit keine kritische Meinungsbildung. Bemängelt wird auch die bewusst enge Taktung des Geschäftes zwischen der Bürger- und der Einwohnergemeinde, die keine Zeit zum Überdenken zulässt. "Darum auf! Ihr Niedergelassene!" liest sich wie ein Weckruf. Die Einwohner sollen sich, so der Schreiber des «Zuger Volksblattes», von den Bürgern nicht an der Nase herumführen lassen.
Fazit
Ein Seilziehen zwischen Niedergelassenen und Bürgern
Die Güterausscheidung in Cham ging sehr schnell über die Bühne. Am 18. Januar 1875 erliess der Kanton das Gesetz zur Güterauscheidung. Am 7. Februar stimmte die Einwohnergemeinde, am 28. Februar die Bürgergemeinde dem Teilungsvertrag zu. Im Einwohnerrat sass mit Kaspar Meier nur ein Liberaler. Er war Präsident des Einwohnerrates, sah sich jedoch einer konservativen Mehrheit gegenüber, die vom Vizepräsidenten Jakob Hildebrand angeführt wurde. An der Einwohnergemeindeversammlung vom 7. Februar nahmen nur wenig Niedergelassene teil. [52] Die Zuteilung des «Neuhaus» an die Bürgergemeinde wurde vor allem von den Niedergelassenen in Frage gestellt, die damals in Cham bereits klar in der Mehrheit waren. Ab 1860 entwickelte sich die Gemeinde Cham durch die Industrialisierung rasant, die Bevölkerung wuchs so schnell wie in keiner anderen Zuger Gemeinde, es gab eine grosse Zuwanderung. Die Alteingesessenen scheinen diese Entwicklung als bedrohlich wahrgenommen zu haben. Der Streit um das «Neuhaus» scheint vor allem ein Seilziehen zwischen den alteingesessenen Chamer Bürgern und den Niedergelassenen, den Zugezogenen gewesen zu sein. Im Hintergrund mag auch die Parteipolitik eine Rolle gespielt haben. Die Wortführer gegen die Zuweisung des «Neuhaus» an die Bürgergemeinde waren meist Liberale. Von Seiten der Alteingesessenen fielen böse Worte wie: die „Vollblutbürger" aus ihrem lang jährigen Besitzthum hinauswerfen; ins gelobte Land einziehen, um sogleich die Geisel über das unverschämte Bürgerthum zu schwingen. Die Chamer Güteraussscheidung, beschäftigte den Zuger Regierungsrat, den Kantonsrat und sogar das Bundesgericht. Die Güteraufteilung in Cham wurde dabei immer mit der Begründung für rechtens erklärt, dass sich die Bürger- und die Einwohnergemeinde für diese Zuteilung geeinigt haben. Von einigen meist liberalen Kantons- und Regierungsräten wurde klare Kritik an der Chamer Güterausscheidung geübt. 1877 sprach das Bundesgericht sein Urteil. Es erklärte die Gruppe um Heinrich Vogel-Saluzzi als nicht klageberechtigt. Die Klage hätte von der Einwohnergemeinde kommen müssen. Laut Bundesgericht hätte kein Zweifel bestanden, dass das «Neuhaus» der Einwohnergemeinde Cham zusteht.
Kurz nach dem Bundesgerichtsurteil begannen die Verkaufsverhandlungen zwischen der Einwohner- und der Bürgergemeinde. Die Bürgergemeinde verlangte einen hohen Preis und gab im Lauf der Verhandlungen nur wenig nach. Zudem wollte sie verhindern, dass die Einwohnergemeinde aus dem «Neuhaus» und seinem Umgelände einen Gewinn erzielen kann. Was der liberale Regierungsrat Josef Bossard an der Kantonsratssitzung vom 1. Juni 1876 geäussert hatte, nämlich dass die Chamer Bürgergemeinde auf Zeit spiele und im schnell wachsenden Cham auf eine Wertsteigerung des «Neuhaus» hoffte, traf wohl zu.
Daniel Schläppis Beurteilung der Güteraufteilung in Cham [53]
«Ein Personengeflecht von Ortsbürgern in der Gefolgschaft von Jakob Hildebrand hatte alle entscheidenden Positionen inne. Dreh- und Angelpunkt war Moritz Baumgartner, Hildebrands Schwager sowie Schreiber des Bürger- und des Einwohnerrats. Wie Hildebrand war er Landwirt, mit der Tochter eines Grossbauern verheiratet und ein typischer Vertreter des alten bäuerlichen Cham, das sich gegen den Strom der industriellen Zeitenwende stemmte. Baumgartner profilierte sich in den Verfassungskämpfen der 1870er Jahre als glühender Gegner der Liberalen. [...]
Die Bürgerschaft hatte es in hartnäckig geführten, jahrelangen Verhandlungen geschafft, das Filetstück aus der Chamer Güterausscheidung gewinnbringend zu versilbern und ihre Gemeindefinanzen zu sanieren. Dass es den gewieften Strippenziehern von Beginn weg darum gegangen war, verdeutlicht der Umstand, dass sich Jakob Hildebrand nach vollbrachter Mission aus dem Einwohnerrat zurückzog, während er dem Kirchenrat von 1874 bis zu seinem Tod 1885 die Treue hielt und diesen auch präsidierte.» [54]
Die Chamer Bürgergemeinde, eine der reichsten im Kanton Zug
Nach dem Verkauf des «Neuhaus» besass die Bürgergemeinde 1880 ein Sachvermögen im Wert von 143'829 Franken, die Einwohnergemeinde eines von 55'693 Franken. Pro Kopf gerechnet entfielen auf jeden Ortsbürger 259 Franken, auf jeden Einwohner 19 Franken. Das Geldvermögen pro Ortsbürger betrug 244 Franken, pro Einwohner bestand eine Schuld von 7 Franken. Die Chamer Bürgergemeinde war nach Zug die zweitreichste im Kanton Zug. Bis anhin hatte sie Zinskosten in der Höhe von ca. 950 Franken zahlen müssen, nach dem Verkauf des «Neuhaus» verfügte sie über Aktiven in der Höhe von 50 000 Franken, aus denen sie durch das Darlehen an die Einwohnergemeinde jährlich 1260 Franken an Zinsen einnahm. [55]
→ zum Artikel Bürgergemeinde, Überblick
Einzelnachweise
- ↑ Matter, Gerhard, Der Kanton Zug auf dem Weg zu seiner Verfassung von 1876. Treibende Kräfte, tragende Ideen der Totalrevision der Jahre 1872–1876, Zug 1985 (Beiträge zur Zuger Geschichte), S. 136
- ↑ Rechenschaftsbericht des Regierungsrathes des Kantons Zug an den hohen Kantonsrath desselben für das Rechenschaftsjahr 1876, S. 14
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 158f.
- ↑ Zuger Volksblatt, 13.02.1875
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, C1-50001, Protokolle des Einwohnerrats, 05.12.1874, 14.01.1875. Typoskript freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Historiker Daniel Schläppi, Bern. Er erforscht die Güteraufteilung in allen Gemeinden im Kanton Zug im Rahmen des Forschungsauftrags 2023/2024 des Staatsarchivs. Sein Artikel «Eine Gefährde des Bürgereigentums und die Quelle vielen Haders. Die Gemeindegüterausscheidungen im Kanton Zug 1874–1886» erscheint im Tugium 40/2024
- ↑ Anton Scherer, Die Bürgermeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 49
- ↑ Über Jakob Hildebrand, Chamer Einwohnerrat, Zuger Regierungsrat und Präsident des Kantonsrats, war der Chamer Einwohnerrat über das laufende Gesetzgebungsverfahren jederzeit bestens informiert. So erklärt sich, dass die Chamer Ausscheidung den rechtlichen Anforderungen genügte. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi). Zuger Volksblatt, 13.02.1875
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 20.02.1875. Zuger Volksblatt, 13.12.1875
- ↑ Amtsblatt für den Kanton Zug 1875, Nr. 7, 13.02.1875. Die Linde lag direkt neben dem «Neuhaus» und gehörte Josef Waldisbühl (1844–1888). Waldisbühl war vor 15 Jahren in Cham gezogen. Der liberale Landwirt und Offizier war volksnah und in Cham beliebt
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 13.12.1875
- ↑ Zuger Volksblatt, 17.12.1875
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 25
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Anton Scherer, Die Bürgergemeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 49
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, C1-50001, Protokoll des Einwohnerrats, 20.03.1875. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 217f.
- ↑ Vgl. Anmerkung 1 (Matter), S. 220
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Anton Scherer, Die Bürgergemeinde, in: Gruber Eugen (Hrsg.), Geschichte von Cham, Band 2, 1962, S. 53
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Regierungsr%C3%A4te_des_Kantons_Zug, konsultiert 9.1.2024
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 10.06.1876
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 04.07.1877
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 01.08.1877
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, Einwohnerratsprotokoll, 14.03.1878
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, Einwohnerratsprotokoll, 27.04.1878
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, Einwohnerratsprotokoll, 02.05.1878
- ↑ Zuger Volksblatt, 08.05.1878
- ↑ Bürgerarchiv Cham, Ortsbürger-Gemeindeversammlung, 12.05.1878
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, Gemeindeversammlungsprotokoll, 12.05.1878
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, Gemeindeversammlungsprotokoll, 12.05.1878
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, C1-50001, Protokoll des Einwohnerrats, 10.10.1878. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, C1-50001, Protokoll des Einwohnerrats, 10.05.1879. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Einwohnergemeindearchiv Cham, B 1.1.1, Gemeindeversammlungsprotokoll, 08.06.1879. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Staatsarchiv Zug, MF 59/82, Protokoll der Ortsbürgerversammlung Cham, 29.06.1879. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Bürgerarchiv Cham, Ortsbürger-Gemeindeversammlung, 29.06.1879
- ↑ Staatsarchiv Zug, Regierungsratsprotokoll, 23.08.1879. Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 20.02.1875
- ↑ Neue Zuger Zeitung, 28.07.1877
- ↑ Zuger Volksblatt, 11.05.1878
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)
- ↑ Vgl. Anmerkung 5 (Schläppi)